Joseph Beuys, Springender Wolf, fallende Bombe, 1959
© VG Bild-Kunst Bonn, 2021, Foto: Jörg von Bruchhausen

Online-Archiv Joseph Beuys

173 Zeichnungen von Joseph Beuys: Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

Zeichnungen von Joseph Beuys in der Sammlung Aeneas Bastian

Mit der Dauerleihgabe von 173 Zeichnungen von Joseph Beuys aus der Sammlung Aeneas Bastian ist 2020 eines der umfangreichsten und wichtigsten Konvolute von Beuys-Zeichnungen aus Privatbesitz in das Dresdner Kupferstich-Kabinett gekommen. Zusammengetragen in unmittelbarer Nähe zum Künstler – Vater Heiner Bastian war langjähriger Sekretär und Vertrauter von Beuys – repräsentieren die Arbeiten nicht nur ein meisterhaftes Œuvre der Zeichenkunst des 20. Jahrhunderts, sie geben auch Zeugnis über das enge Band zwischen dem Künstler und der Familie Bastian.

Die Sammlung ist in ihrem Umfang und ihrer Qualität einzigartig. Die Arbeiten bilden die gesamte Schaffenszeit des Künstlers ab: Das früheste Blatt ist 1945 entstanden, das späteste erst gut ein Jahr vor Beuys’ Tod 1986. Das Kupferstich-Kabinett möchte in den nächsten Jahren die Sammlung Aeneas Bastian aus vielfältigen Perspektiven und in unterschiedlichen analogen und digitalen Formaten vorstellen und erschließen. Alle Werke und Forschungsergebnisse werden hier in diesem Online-Archiv dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht.

Entstehungszeit

Motive und Themen

Materialien und Technik

Springender Wolf, fallende Bombe

Der springende Wolf und die fallende Bombe sind für sich kaum identifizierbar, vielmehr ähneln sie sich in der Form und der graugrünen Farbe, die man sowohl mit einem Fell als auch mit dem Militär in Verbindung bringen kann. Beuys’ Fokus liegt auf der dynamischen Auf- und Abwärtsbewegung, die er als Flugbahn darstellt. Der Übergang lässt sich als eines der künstlerischen Leitmotive von Beuys, die Wandlungsfähigkeit der Dinge, deuten. Der Wolf verwandelt sich in eine Bombe, während die spezifischen Unterschiede zwischen organisch und anorganisch, zwischen lebendig und tot oder todbringend verwischen, so dass im Zentrum der Arbeit die angereicherte Energie der beiden symbolischen Urgewalten Wolf und Bombe kurz vor ihrer Freisetzung fassbar wird.

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Joseph Beuys, Springender Wolf, fallende Bombe, 1959 Zwei Blätter, Ölfarbe und Wasserfarbe, DLN Bastian 59.08

Raum mit Filzplastiken

Den Beginn der Zusammenarbeit zwischen der Familie Bastian und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden markiert die Schenkung einer wichtigen Zeichnung aus dem Konvolut an das Kupferstich-Kabinett: Das Blatt Raum mit Filzplastiken zeigt beispielhaft das künstlerische Gewicht der Zeichnungen im OEuvre des Künstlers. Es entstand in einer entscheidenden Phase seines Wirkens, als Beuys Akademielehrer in Düsseldorf war, erste Fluxus-Aktionen durchgeführt und sein bildnerisches Werk um Filz, Fett und Wachs erweitert hatte. Die Zeichnung deutet eine Raumsituation an, die ein energetisches Spannungsfeld aus Flächen und Linien, aus Ruhe und Bewegung zu erzeugen scheint. Das Werk ist der autonome Ausdruck einer künstlerischen Suchbewegung, die im kleinen Format der Zeichnung plastische Kraft entfaltet.

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Joseph Beuys, Raum mit Filzplastiken, 1963 Öl auf Papier, 2020 Schenkung Dr. Aeneas Bastian, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 2020-45

Nord – frühmorgens Ausfahrt

Findet hier eine frühmorgendliche Ausfahrt hoch in den Norden mit Skiern oder Schlitten statt? Steckt ein Paar Skier noch senkrecht im Schnee am Haus, während ein anderes mitgerissen von den gerade Aufgebrochenen quasi die Richtung der Ausfahrt nach rechts hinaus und dem Sonnenaufgang im Osten entgegen in die Weite der Landschaft anzeigt? Die Zeichnung in Bleistift und Braunkreuz von 1976 löst narrative Assoziationen aus – erst recht, wenn man den Titel kennt und weiß, welche große Bedeutung Beuys dem Schlitten als archaisches Fahrzeug beimaß.

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Joseph Beuys, Nord – frühmorgens Ausfahrt, 1976 Ölfarbe (Braunkreuz), Bleistift DLN Bastian 76.05

Wenn man hingegen

Wenn man hingegen ohne Assoziationen zum Beuys-Kontext oder ohne Hintergrundwissen weder die Linienpaare als Kufen oder Skier deutet noch den linken Bildrand als morgendlich verschattete Hauswand erkennen möchte oder im Kontrast hierzu die weißen Partien im Bild nicht als Schneedecke, sondern zunächst vom Bild und seinen Elementen ausgeht, so findet dieser Aufbruch dennoch statt. Vom blockhaften Gebilde links gehen in Leserichtung Flächen oder Linien oder ab, die sich nach rechts hin verjüngen und sogar wie Pfeile zuspitzen. Als habe der horizontale Duktus der Ölfarbe noch nicht an allen Stellen die Vorzeichnung erreicht, unterstreicht das vermeintlich Unfertige die Bewegung im Bild. Hier scheint ein Zustand des Übergangs vom Dunkel ins Helle dargestellt, noch tastend in der Bewegung, aber mit klarer Zielrichtung.

Organisation für Direkte Demokratie

Der bildende Künstler Joseph Beuys beteiligte sich nicht nur an politischen Ausstellungen und Aktionen, sondern weitete sein Betätigungsfeld seit Mitte der 1960er Jahre vehement auf den gesellschaftspolitischen Bereich aus: Er formulierte eine Kunsttheorie mit politischer Ambition und beanspruchte damit praktische Problemfelder der Gesellschaft und des Staates – besonders die Ideen der Revolution wie der direkten Demokratie – für den Aufgabenbereich der Kunst.
Nach eigener Auskunft war Beuys bestrebt, Missstände der Gesellschaft, die er als Krankheiten zu erkennen glaubte, zu heilen. Allen voran attackierte er die westlich aufgeklärte, angeblich allein vom kalten Intellekt geleitete materialistische Weltsicht. Regelmäßig geißelte er die repräsentative, parlamentarische Demokratie als Parteiendiktatur –ebenso wie die kommunistische Diktatur im Ostblock. Dabei zeigte sich der Parteienverächter nicht nur als streitbarer Gesellschaftskritiker, sondern er inszenierte sich als heilender Schamane wie als Reformer und Rebell.

Um Alternativen anzustoßen – d. h. zu provozieren – trat Beuys seit 1967 verstärkt als Gründer von politischen Vereinigungen, von Parteien, Organisationen und Schulen auf. Alle seine Gründungen leiten jeweils in die folgende Initiative über, gehen darin auf und werden weitergeführt: So gründete er 1967 die „Deutsche Studentenpartei“; darauf folgte 1970 die Gründung der „Organisation der Nichtwähler“; 1971 wurde die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ mit ihrem Düsseldorfer Informationsbüro aus der Taufe gehoben, die mit dem „Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ im Sommer 1972 auf der documenta 5 vertreten war.

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Joseph Beuys, Organisation für direkte Demokratie, 1971 Bitumen, Fett auf Broschüren (nummeriert 1-12), A. Nr. 71.03

In diesem Zusammenhang

In diesem Zusammenhang entstand die „Broschüre Volksabstimmung“ mit einem Briefkopf der Organisation als Deckblatt. Der Schriftsatz umfasst 20 eng mit Text bedruckte Din-A-4-Blätter. Dieser einfache blockgeheftete Broschurdruck wurde im Informationsbüro in der Düsseldorfer Andreasstraße sowie im Büro auf der documenta 5 massenhaft an Interessierte verteilt oder postalisch versendet. Die Broschüre wurde zudem als Inhalt einer bedruckten Tragetasche aus Polyäthylen (PVC) mit weiterem Informationsmaterial und Filzobjekt abgegeben. Jene Edition mit dem Titel „So kann die Parteiendiktatur überwunden werden!“ zeigt auf der einen Seite das gleichnamige Diagramm und auf der anderen Seite eine Grafik mit dem Vergleich der Gesellschaftsformen „wirkliche Demokratie – Parteienstaat“.

Es handelt sich bei der Broschüre um ein klassisches und kostengünstiges Mittel zur Verbreitung weltanschaulich-politischer Inhalte. Doch in dem vorliegenden Kunstwerk führt Beuys diesen sprachlich-inhaltlichen Kontext zurück in seinen geistig-visuellen Kosmos, indem er eine Anzahl von zwölf Exemplaren der Broschüre aufgereiht in einem Rahmen montiert und damit unlesbar macht. Die Vorderseiten sind mit einer unregelmäßig verlaufenden braunen Farbe bearbeitet, sodass jedes Exemplar eine andere Wirkung gewinnt: aus einem seriellen Produkt wird auf diese Weise eine Reihe von Unikaten, die eine filmmäßig ablaufende Bewegung von Wolkenformen suggeriert. Der ursprüngliche Inhalt ist nur noch durch den Titel und wenige lesbare Hinweise zu erahnen.
Durch diese in seinem Schaffen immer wieder zu beobachtende Verschleierung vollzieht der Künstler die Wandlung eines Objektes bzw. eines Inhaltes durch bildkünstlerischen Eingriff zu etwas, das einer anderen, geistigen Ebene anzugehören scheint. Der Propagandatext wird dem intellektuellen, rein politischen Genre entrissen und auf eine spirituelle Ebene erhoben. Im Blick auf dieses Kunstwerk ist der betrachtende Mensch nun frei, die aufgerufenen Inhalte als selbst Denkender mit eigener Intuition kreativ zu beleben.

Von Andreas Quermann, Leiter des Schlosses Rochsburg in Sachsen, Andreas Quermann hat die Arbeit auf der Veranstaltung des Kupferstich-Kabinetts „100 Jahre Joseph Beuys“ zum Geburtstag des Künstlers am 12. Mai 2021 online vorgestellt.

Neun Zeichnungen zur Theorie der Plastik I-IX. Gespräch mit Heiner Bastian

Zeichnungen, in denen Beuys grafische Bilder für seine theoretischen Ansichten entwickelte, bilden eine eigenständige Gruppe in seinem Werk. Diese neun Blätter sind während eines Gesprächs mit Heiner Bastian über die „Theorie der Plastik“ am 31. Januar 1971 entstanden. Beuys sucht im Zeichnungsprozess Darstellungsformen für die Zusammenhänge von Begriffen wie „Form“ und „Denken“ oder „Geist“ und „Materie“. Die Diagramme sollten Argumente im Gespräch erläutern und visualisieren. Sie machen deutlich, dass Beuys grafische und sprachliche Formulierung als einen gemeinsamen, voneinander abhängigen intellektuellen Vorgang verstand. Gleichwohl sind die Zeichen nicht jedem sofort verständlich. Sie sind Ausdruck einer intensiven Denkleistung, die hier einen ersten visuellen Niederschlag gefunden hat. Das Gespräch zwischen Beuys und Bastian fand am Beginn einer langjährigen sich gegenseitig inspirierenden Freundschaft statt. Der Zeichner und der Lyriker kannten sich zu diesem Zeitpunkt knapp drei Jahre. 

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Joseph Beuys, Neun Zeichnungen zur Theorie der Plastik, 1971 Bleistift auf Papier, DLN Bastian 71.02

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Wachsplastik

Mit Kugelschreiber und eisenhaltiger Substanz ist eine kaum lesbare Darstellung zu Papier gebracht. Klar begrenzende Linien wechseln sich mit den unscharfen Rändern des wässrigen Mediums ab; Zufälligkeit und Ordnung stehen sich gegenüber. Dabei ist unklar, womit Beuys im Zeichenprozess begann, ob er mit dem Kugelschreiber auf die Farbe oder mit der Farbe auf den Kugelschreiber reagierte. Im Titel ist ein Zusammenhang mit Beuys‘ „Theorie der Plastik“ angelegt. Diese geht auf die Überzeugung zurück, dass alle Materie einen „Wärmecharakter“ hat und im Energieaustausch bewegt wird. Dadurch kommt es zu einem Ausgleich der Kräfte. Dieser Vorgang ist im Kern prozesshaft und kommunikativ. Beuys verband damit die Idee des Plastischen. 

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Joseph Beuys, Wachsplastik, 1952 Eisenchlorid und Kugelschreiber auf Papier, DLN Bastian 52.01

Kristallines Prinzip und Block

Die Bleistiftzeichnung „Kristallines Prinzip und Block“ schuf Joseph Beuys im Jahr 1974 auf einem rückseitig mit einem gedruckten Text versehenen Blatt im klassischen DIN A 4-Format (29,7 x 21 cm). Auch wenn das Format eher bescheiden ist, besitzt das Werk eine ganz besondere plastische Kraft, die einen die Größe der Darstellung vergessen lässt.

Beuys hat das Blatt mit zwei übereinander angeordneten, sich ähnelnden Formen gefüllt – auf diese bezieht sich die Bezeichnung „Block“ –, von denen er die obere mit einer verzweigten, an das Blatt eines Baumes erinnernden Struktur als Aussparung in der schraffierten Fläche versehen hat. Zwischen den einzelnen Verzweigungen finden sich sternförmig kreuzende Stiche, die wie die blattartige Hauptform kristallin anmuten.

Die beiden Blöcke, die eine Doppelstruktur definieren, sind in ihrer Form komplex: Durch eine bogenförmige Aussparung jeweils oben links wird ihre Tiefe erkennbar – und man meint, eine Art Bodenplatte zu sehen. Die rechteckige Grundform eines jeden Blockes ist nicht nur durch die besagte Aussparung, sondern auch durch eine Abschrägung unten rechts aufgebrochen. Zudem begleiten den unteren Block zwei kleinere plastische Formen.

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Joseph Beuys, Kristallines Prinzip und Block, 1974 Bleistift auf weißem rückseitig bedrucktem Papier, 297 x 210 mm, DLN Bastian 74.09

Die an ihren Rändern

Die an ihren Rändern veränderten Blöcke (auf welches Material Beuys anspielt – Filz oder Metall? – bleibt offen) erweisen sich nicht als statische, sondern als belebte Gebilde, während die kristalline Struktur, die wie eine Flechte den oberen Block besetzt, in sich abgeschlossen und erstarrt anmutet. Damit aber ergibt sich der Bezug auf Beuys´ Vorstellungen vom Kristallinen als einem rationalen, statischen Verkrustungszustand des Plastisch-Kreativen, während die Blöcke, die auch als Speicher plastischer Kräfte begriffen werden könne, durch Impulse von außen neues Leben gewinnen – und Energie freisetzen.

Von Dr. Andreas Schalhorn, Referent für moderne Kunst am Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Andreas Schalhorn hat die Zeichnung auf der Veranstaltung des Kupferstich-Kabinetts „100 Jahre Joseph Beuys“ zum Geburtstag des Künstlers am 12. Mai 2021 online vorgestellt.

von Johanna Adam

Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen

Mensch und Natur bedeuteten für Joseph Beuys keine Gegensätze, sondern eine untrennbare Einheit. Die Menschheit nimmt der Tier- und Pflanzenwelt gegenüber keine übergeordnete Rolle ein. Beuys geht hier von einer tiefen spirituellen Beziehung aus. Im Fortschreiten der Zivilisation droht der Mensch jedoch, diese Bindung zu verlieren. Die Intuition, die Beuys als das maßgeblich verbindende Element sieht, wird durch den Primat der Ratio abgelöst und sorgt zusehends für eine Entfremdung des Menschen von den Sphären der Natur. Als eines der Anzeichen dafür deutet Beuys den Verlust des evolutionären Prinzips, das wie in der Natur auch gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zugrunde liegen sollte. Statt eruptiver Umbrüche sei ein langsamer, aber dafür nachhaltiger Wandel anzustreben.

Johanna Adam, Kuratorin der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, hat die Ausstellung BEUYS – LEHMBRUCK. DENKEN IST PLASTIK (25. Juni bis 1. November 2021) kuratiert.

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Joseph Beuys, Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen, 1945 Schenkung Dr. Aeneas Bastian, 2020, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. DLN Bastian 45.01
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