Joseph Beuys, Springender Wolf, fallende Bombe, 1959
© VG Bild-Kunst Bonn, 2021, Foto: Jörg von Bruchhausen

Online-Archiv Joseph Beuys

175 Zeichnungen von Joseph Beuys: Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

Zeichnungen von Joseph Beuys in der Sammlung Aeneas Bastian

Mit der Dauerleihgabe von 175 Zeichnungen von Joseph Beuys aus der Sammlung Aeneas Bastian ist 2020 eines der umfangreichsten und wichtigsten Konvolute von Beuys-Zeichnungen aus Privatbesitz in das Dresdner Kupferstich-Kabinett gekommen. Zusammengetragen in unmittelbarer Nähe zum Künstler – Vater Heiner Bastian war langjähriger Sekretär und Vertrauter von Beuys – repräsentieren die Arbeiten nicht nur ein meisterhaftes Œuvre der Zeichenkunst des 20. Jahrhunderts, sie geben auch Zeugnis über das enge Band zwischen dem Künstler und der Familie Bastian.

Die Sammlung ist in ihrem Umfang und ihrer Qualität einzigartig. Die Arbeiten bilden die gesamte Schaffenszeit des Künstlers ab: Das früheste Blatt ist 1945 entstanden, das späteste erst gut ein Jahr vor Beuys’ Tod 1986. Das Kupferstich-Kabinett möchte in den nächsten Jahren die Sammlung Aeneas Bastian aus vielfältigen Perspektiven und in unterschiedlichen analogen und digitalen Formaten vorstellen und erschließen. Alle Werke und Forschungsergebnisse werden hier in diesem Online-Archiv dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht.

Entstehungszeit

Motive und Themen

Materialien und Technik

Alle Werke von Joseph Beuys

Alle Werke von Joseph Beuys in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden:

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Springender Wolf, fallende Bombe

Der springende Wolf und die fallende Bombe sind für sich kaum identifizierbar, vielmehr ähneln sie sich in der Form und der graugrünen Farbe, die man sowohl mit einem Fell als auch mit dem Militär in Verbindung bringen kann. Beuys’ Fokus liegt auf der dynamischen Auf- und Abwärtsbewegung, die er als Flugbahn darstellt. Der Übergang lässt sich als eines der künstlerischen Leitmotive von Beuys, die Wandlungsfähigkeit der Dinge, deuten. Der Wolf verwandelt sich in eine Bombe, während die spezifischen Unterschiede zwischen organisch und anorganisch, zwischen lebendig und tot oder todbringend verwischen, so dass im Zentrum der Arbeit die angereicherte Energie der beiden symbolischen Urgewalten Wolf und Bombe kurz vor ihrer Freisetzung fassbar wird.

© VG Bild-Kunst Bonn, 2021, Foto: Jörg von Bruchhausen
Joseph Beuys, Springender Wolf, fallende Bombe, 1959 Zwei Blätter, Ölfarbe und Wasserfarbe, DLN Bastian 59.08

Raum mit Filzplastiken

Den Beginn der Zusammenarbeit zwischen der Familie Bastian und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden markiert die Schenkung einer wichtigen Zeichnung aus dem Konvolut an das Kupferstich-Kabinett: Das Blatt Raum mit Filzplastiken zeigt beispielhaft das künstlerische Gewicht der Zeichnungen im OEuvre des Künstlers. Es entstand in einer entscheidenden Phase seines Wirkens, als Beuys Akademielehrer in Düsseldorf war, erste Fluxus-Aktionen durchgeführt und sein bildnerisches Werk um Filz, Fett und Wachs erweitert hatte. Die Zeichnung deutet eine Raumsituation an, die ein energetisches Spannungsfeld aus Flächen und Linien, aus Ruhe und Bewegung zu erzeugen scheint. Das Werk ist der autonome Ausdruck einer künstlerischen Suchbewegung, die im kleinen Format der Zeichnung plastische Kraft entfaltet.

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Joseph Beuys, Raum mit Filzplastiken, 1963 Öl auf Papier, 2020 Schenkung Dr. Aeneas Bastian, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 2020-45

Nord – frühmorgens Ausfahrt

Findet hier eine frühmorgendliche Ausfahrt hoch in den Norden mit Skiern oder Schlitten statt? Steckt ein Paar Skier noch senkrecht im Schnee am Haus, während ein anderes mitgerissen von den gerade Aufgebrochenen quasi die Richtung der Ausfahrt nach rechts hinaus und dem Sonnenaufgang im Osten entgegen in die Weite der Landschaft anzeigt? Die Zeichnung in Bleistift und Braunkreuz von 1976 löst narrative Assoziationen aus – erst recht, wenn man den Titel kennt und weiß, welche große Bedeutung Beuys dem Schlitten als archaisches Fahrzeug beimaß.

© Jörg von Bruchhausen
Joseph Beuys, Nord – frühmorgens Ausfahrt, 1976 Ölfarbe (Braunkreuz), Bleistift DLN Bastian 76.05

Wenn man hingegen

Wenn man hingegen ohne Assoziationen zum Beuys-Kontext oder ohne Hintergrundwissen weder die Linienpaare als Kufen oder Skier deutet noch den linken Bildrand als morgendlich verschattete Hauswand erkennen möchte oder im Kontrast hierzu die weißen Partien im Bild nicht als Schneedecke, sondern zunächst vom Bild und seinen Elementen ausgeht, so findet dieser Aufbruch dennoch statt. Vom blockhaften Gebilde links gehen in Leserichtung Flächen oder Linien oder ab, die sich nach rechts hin verjüngen und sogar wie Pfeile zuspitzen. Als habe der horizontale Duktus der Ölfarbe noch nicht an allen Stellen die Vorzeichnung erreicht, unterstreicht das vermeintlich Unfertige die Bewegung im Bild. Hier scheint ein Zustand des Übergangs vom Dunkel ins Helle dargestellt, noch tastend in der Bewegung, aber mit klarer Zielrichtung.

Organisation für Direkte Demokratie

Der bildende Künstler Joseph Beuys beteiligte sich nicht nur an politischen Ausstellungen und Aktionen, sondern weitete sein Betätigungsfeld seit Mitte der 1960er Jahre vehement auf den gesellschaftspolitischen Bereich aus: Er formulierte eine Kunsttheorie mit politischer Ambition und beanspruchte damit praktische Problemfelder der Gesellschaft und des Staates – besonders die Ideen der Revolution wie der direkten Demokratie – für den Aufgabenbereich der Kunst.
Nach eigener Auskunft war Beuys bestrebt, Missstände der Gesellschaft, die er als Krankheiten zu erkennen glaubte, zu heilen. Allen voran attackierte er die westlich aufgeklärte, angeblich allein vom kalten Intellekt geleitete materialistische Weltsicht. Regelmäßig geißelte er die repräsentative, parlamentarische Demokratie als Parteiendiktatur –ebenso wie die kommunistische Diktatur im Ostblock. Dabei zeigte sich der Parteienverächter nicht nur als streitbarer Gesellschaftskritiker, sondern er inszenierte sich als heilender Schamane wie als Reformer und Rebell.

© VG Bild-Kunst Bonn, 2021, Foto: Jörg von Bruchhausen
Joseph Beuys, Organisation für direkte Demokratie, 1971 Bitumen, Fett auf Broschüren (nummeriert 1-12), A. Nr. 71.03

In diesem Zusammenhang

Um Alternativen anzustoßen – d. h. zu provozieren – trat Beuys seit 1967 verstärkt als Gründer von politischen Vereinigungen, von Parteien, Organisationen und Schulen auf. Alle seine Gründungen leiten jeweils in die folgende Initiative über, gehen darin auf und werden weitergeführt: So gründete er 1967 die „Deutsche Studentenpartei“; darauf folgte 1970 die Gründung der „Organisation der Nichtwähler“; 1971 wurde die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ mit ihrem Düsseldorfer Informationsbüro aus der Taufe gehoben, die mit dem „Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ im Sommer 1972 auf der documenta 5 vertreten war.

In diesem Zusammenhang entstand die „Broschüre Volksabstimmung“ mit einem Briefkopf der Organisation als Deckblatt. Der Schriftsatz umfasst 20 eng mit Text bedruckte Din-A-4-Blätter. Dieser einfache blockgeheftete Broschurdruck wurde im Informationsbüro in der Düsseldorfer Andreasstraße sowie im Büro auf der documenta 5 massenhaft an Interessierte verteilt oder postalisch versendet. Die Broschüre wurde zudem als Inhalt einer bedruckten Tragetasche aus Polyäthylen (PVC) mit weiterem Informationsmaterial und Filzobjekt abgegeben. Jene Edition mit dem Titel „So kann die Parteiendiktatur überwunden werden!“ zeigt auf der einen Seite das gleichnamige Diagramm und auf der anderen Seite eine Grafik mit dem Vergleich der Gesellschaftsformen „wirkliche Demokratie – Parteienstaat“.

Es handelt sich bei der Broschüre um ein klassisches und kostengünstiges Mittel zur Verbreitung weltanschaulich-politischer Inhalte. Doch in dem vorliegenden Kunstwerk führt Beuys diesen sprachlich-inhaltlichen Kontext zurück in seinen geistig-visuellen Kosmos, indem er eine Anzahl von zwölf Exemplaren der Broschüre aufgereiht in einem Rahmen montiert und damit unlesbar macht. Die Vorderseiten sind mit einer unregelmäßig verlaufenden braunen Farbe bearbeitet, sodass jedes Exemplar eine andere Wirkung gewinnt: aus einem seriellen Produkt wird auf diese Weise eine Reihe von Unikaten, die eine filmmäßig ablaufende Bewegung von Wolkenformen suggeriert. Der ursprüngliche Inhalt ist nur noch durch den Titel und wenige lesbare Hinweise zu erahnen.
Durch diese in seinem Schaffen immer wieder zu beobachtende Verschleierung vollzieht der Künstler die Wandlung eines Objektes bzw. eines Inhaltes durch bildkünstlerischen Eingriff zu etwas, das einer anderen, geistigen Ebene anzugehören scheint. Der Propagandatext wird dem intellektuellen, rein politischen Genre entrissen und auf eine spirituelle Ebene erhoben. Im Blick auf dieses Kunstwerk ist der betrachtende Mensch nun frei, die aufgerufenen Inhalte als selbst Denkender mit eigener Intuition kreativ zu beleben.

Von Andreas Quermann, Leiter des Schlosses Rochsburg in Sachsen, Andreas Quermann hat die Arbeit auf der Veranstaltung des Kupferstich-Kabinetts „100 Jahre Joseph Beuys“ zum Geburtstag des Künstlers am 12. Mai 2021 online vorgestellt.

Neun Zeichnungen zur Theorie der Plastik I-IX. Gespräch mit Heiner Bastian

Zeichnungen, in denen Beuys grafische Bilder für seine theoretischen Ansichten entwickelte, bilden eine eigenständige Gruppe in seinem Werk. Diese neun Blätter sind während eines Gesprächs mit Heiner Bastian über die „Theorie der Plastik“ am 31. Januar 1971 entstanden. Beuys sucht im Zeichnungsprozess Darstellungsformen für die Zusammenhänge von Begriffen wie „Form“ und „Denken“ oder „Geist“ und „Materie“. Die Diagramme sollten Argumente im Gespräch erläutern und visualisieren. Sie machen deutlich, dass Beuys grafische und sprachliche Formulierung als einen gemeinsamen, voneinander abhängigen intellektuellen Vorgang verstand. Gleichwohl sind die Zeichen nicht jedem sofort verständlich. Sie sind Ausdruck einer intensiven Denkleistung, die hier einen ersten visuellen Niederschlag gefunden hat. Das Gespräch zwischen Beuys und Bastian fand am Beginn einer langjährigen sich gegenseitig inspirierenden Freundschaft statt. Der Zeichner und der Lyriker kannten sich zu diesem Zeitpunkt knapp drei Jahre. 

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Joseph Beuys, Neun Zeichnungen zur Theorie der Plastik, 1971 Bleistift auf Papier, DLN Bastian 71.02

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Wachsplastik

Mit Kugelschreiber und eisenhaltiger Substanz ist eine kaum lesbare Darstellung zu Papier gebracht. Klar begrenzende Linien wechseln sich mit den unscharfen Rändern des wässrigen Mediums ab; Zufälligkeit und Ordnung stehen sich gegenüber. Dabei ist unklar, womit Beuys im Zeichenprozess begann, ob er mit dem Kugelschreiber auf die Farbe oder mit der Farbe auf den Kugelschreiber reagierte. Im Titel ist ein Zusammenhang mit Beuys‘ „Theorie der Plastik“ angelegt. Diese geht auf die Überzeugung zurück, dass alle Materie einen „Wärmecharakter“ hat und im Energieaustausch bewegt wird. Dadurch kommt es zu einem Ausgleich der Kräfte. Dieser Vorgang ist im Kern prozesshaft und kommunikativ. Beuys verband damit die Idee des Plastischen. 

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Joseph Beuys, Wachsplastik, 1952 Eisenchlorid und Kugelschreiber auf Papier, DLN Bastian 52.01

Kristallines Prinzip und Block

Die Bleistiftzeichnung „Kristallines Prinzip und Block“ schuf Joseph Beuys im Jahr 1974 auf einem rückseitig mit einem gedruckten Text versehenen Blatt im klassischen DIN A 4-Format (29,7 x 21 cm). Auch wenn das Format eher bescheiden ist, besitzt das Werk eine ganz besondere plastische Kraft, die einen die Größe der Darstellung vergessen lässt.

Beuys hat das Blatt mit zwei übereinander angeordneten, sich ähnelnden Formen gefüllt – auf diese bezieht sich die Bezeichnung „Block“ –, von denen er die obere mit einer verzweigten, an das Blatt eines Baumes erinnernden Struktur als Aussparung in der schraffierten Fläche versehen hat. Zwischen den einzelnen Verzweigungen finden sich sternförmig kreuzende Stiche, die wie die blattartige Hauptform kristallin anmuten.

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Joseph Beuys, Kristallines Prinzip und Block, 1974 Bleistift auf weißem rückseitig bedrucktem Papier, 297 x 210 mm, DLN Bastian 74.09

Die an ihren Rändern

Die beiden Blöcke, die eine Doppelstruktur definieren, sind in ihrer Form komplex: Durch eine bogenförmige Aussparung jeweils oben links wird ihre Tiefe erkennbar – und man meint, eine Art Bodenplatte zu sehen. Die rechteckige Grundform eines jeden Blockes ist nicht nur durch die besagte Aussparung, sondern auch durch eine Abschrägung unten rechts aufgebrochen. Zudem begleiten den unteren Block zwei kleinere plastische Formen.

Die an ihren Rändern veränderten Blöcke (auf welches Material Beuys anspielt – Filz oder Metall? – bleibt offen) erweisen sich nicht als statische, sondern als belebte Gebilde, während die kristalline Struktur, die wie eine Flechte den oberen Block besetzt, in sich abgeschlossen und erstarrt anmutet. Damit aber ergibt sich der Bezug auf Beuys´ Vorstellungen vom Kristallinen als einem rationalen, statischen Verkrustungszustand des Plastisch-Kreativen, während die Blöcke, die auch als Speicher plastischer Kräfte begriffen werden könne, durch Impulse von außen neues Leben gewinnen – und Energie freisetzen.

Von Dr. Andreas Schalhorn, Referent für moderne Kunst am Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Andreas Schalhorn hat die Zeichnung auf der Veranstaltung des Kupferstich-Kabinetts „100 Jahre Joseph Beuys“ zum Geburtstag des Künstlers am 12. Mai 2021 online vorgestellt.

von Johanna Adam

Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen

Mensch und Natur bedeuteten für Joseph Beuys keine Gegensätze, sondern eine untrennbare Einheit. Die Menschheit nimmt der Tier- und Pflanzenwelt gegenüber keine übergeordnete Rolle ein. Beuys geht hier von einer tiefen spirituellen Beziehung aus. Im Fortschreiten der Zivilisation droht der Mensch jedoch, diese Bindung zu verlieren. Die Intuition, die Beuys als das maßgeblich verbindende Element sieht, wird durch den Primat der Ratio abgelöst und sorgt zusehends für eine Entfremdung des Menschen von den Sphären der Natur. Als eines der Anzeichen dafür deutet Beuys den Verlust des evolutionären Prinzips, das wie in der Natur auch gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zugrunde liegen sollte. Statt eruptiver Umbrüche sei ein langsamer, aber dafür nachhaltiger Wandel anzustreben.

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Joseph Beuys, Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen, 1945 Schenkung Dr. Aeneas Bastian, 2020, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. DLN Bastian 45.01

Jene Gedanken

Jene Gedanken, die der frühen Papierarbeit Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen bereits zugrunde gelegen haben mögen, manifestieren sich etwa 40 Jahre später umso deutlicher in Beuys Aktion 7000 Eichen. Bei der von Kritikern mitunter als Öko-Aktivismus abgewerteten sozialen Plastik ging es dem Künstler in erster Linie um die menschliche Seele: „Die Bäume sind nicht wichtig, um dieses Leben auf der Erde aufrecht zu erhalten. Nein, die Bäume sind wichtig um die menschliche Seele zu retten. Dieser Spinatökologismus, der interessiert ja nicht. Das einzige, was sich lohnt aufzurichten, ist die menschliche Seele. Ich meine jetzt nicht nur das Gefühlsmäßige, sondern [das] Erkenntniskräftige, die Fähigkeit des Denkens, der Intuition, der Inspiration, das Ich-Bewusstsein, die Willenskraft. Das sind ja alles Dinge, die sehr stark geschädigt sind in unserer Zeit. Die müssen gerettet werden. Dann ist alles andere sowieso gerettet (zitiert nach dem Film „Zeige deine Wunde. Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys“, Rüdiger Sünner, 2015)." Mensch, Tier und Pflanzenwelt sind Teil desselben Kreislaufs von Werden und Vergehen auf dieser Erde. Das thematisiert diese frühe Zeichnung und Collage ebenso wie die späte Großplastik 7000 Eichen, in welcher die Zeit sich als plastische Kraft auswirkt. Bei Der Mensch 1 Mensch 2 Menschen ist es eine zartere Andeutung, die das Blatt als Pars pro toto für den Baum erscheinen lässt. Die Form wirkt identisch – Stamm, Äste und Laubkrone spiegeln sich stilisiert im aufrecht gestellten Lindenblatt ab. Das braune Blatt, im Herbst vom Zweig des Baumes gefallen, wird bald wieder Teil des natürlichen Kreislaufs biologischer Prozesse. Darunter schreibt (oder zeichnet) Beuys die Worte „Der Mensch / 1 Mensch / 2 Menschen“ und verweist damit nicht nur auf die Analogie der Lebenszyklen, sondern lässt auch das Prinzip des pars pro toto erneut aufscheinen. Der Mensch steht gleichsam für die gesamte Menschheit, zwei Menschen für das Prinzip der Fortpflanzung. Leben und Tod folgen aufeinander, sich wiederholend über die Generationen und Zeitalter hinweg. Geht aber am Ende des Lebens nicht nur der Körper an die Natur zurück, sondern möglicherweise auch die Seele in einen großen spirituellen Kreislauf?

Beuys hat sich mit Fragen der Spiritualität, Philosophie, Religion und Geistesgeschichte zeitlebens intensiv auseinandergesetzt. So wird er auch das Lindenblatt nicht allein wegen seiner baumartigen Form ausgewählt haben, sondern er hat dessen mythologische Implikationen bewusst einfließen lassen. Das Lindenblatt, das im Nibelungenlied dafür sorgt, dass Siegfried an einer kleinen Stelle seines Rückens verwundbar bleibt, verweist auf die grundsätzliche Verletzlichkeit des Lebens. Die Sterblichkeit eint den Menschen mit der Tier- und Pflanzenwelt, was insbesondere in den zahlreichen Tierzeichnungen von Beuys immer wieder zum Thema wird. Die übergeordnete Idee der Einheit von Mensch und Natur fördert aber noch eine weitere Verbindungslinie in der Geistesgeschichte zutage: Der Kunstbegriff der Romantik, dem die Idee der Natur als schöpferische Kraft zugrunde liegt, hatte für Beuys einen bedeutenden Stellenwert. Nicht die Natur nachzubilden sei das Ziel der Kunst, sondern aus ihr Erkenntnis zu gewinnen und die eigene Imagination schöpferisch zu nutzen. Der Dichter der Romantik, Novalis, spitzte diese Kunstauffassung auf eine Weise zu, die Beuys kaum näher sein könnte: „Fast jeder Mensch ist in geringem Grad schon Künstler  – Er sieht in der That heraus und nicht herein – Er fühlt heraus und nicht herein (Novalis Werke. Herausgegeben und kommentiert von Gerhard Schulz. Verlag C.H. Beck, München, 2001, S.394).

Johanna Adam, Kuratorin der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, hat die Ausstellung BEUYS – LEHMBRUCK. DENKEN IST PLASTIK (25. Juni bis 1. November 2021) kuratiert.

von Martin Lottermoser

Schamanen-Tanz, 1964

Beuys und das Schamanentum sind untrennbar miteinander verbunden. Der Schamane als kultische Figur und Institution stellt für Beuys geradezu den Inbegriff eines archaischen Menschen mit Verbindung zum Spirituellen und zur Natur dar. Man könnte auch sagen, er steht im Kosmos Beuys für alles, was der moderne Mensch verloren zu haben glaubt. Dieses mit besonderen, gar magischen und heilenden Fähigkeiten ausgestattete Wesen präsentiert der Künstler in seinem Werk (SCHAMANEN)-Tanz.

abstrakte Zeichnung einer Person
© VG Bild-Kunst 2023
Joseph Beuys, Schamanen-Tanz, 1964 Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Beuys inszeniert

Beuys inszeniert die Begegnung mit dem Schamanen und seinem Tanz, als fände sie in einer Trance statt. Der Zeichner verlangt uns eine Reise ab, auf der wir alles Gewusste und Irdische hinter uns lassen müssen, um zum Unbewussten und Transzendentalen vorzudringen. Zunächst – stehen uns ein oder zwei Menschen gegenüber? Beuys hat für seine Darstellung eine solch offene Form gewählt, dass man im ersten Moment verunsichert sein kann, mit wie vielen Personen man es überhaupt zu tun hat und welche Handlung diese gerade vollführen. Zwei Figuren heben sich voneinander ab, nehmen Bezug aufeinander, machen einen Schritt nach vorn, überschneiden sich, verbinden sich, lösen sich. Die Köpfe ekstatisch hin und her bewegend verschmelzen ihre nackten Leiber alsbald rhythmisch wiegend im Akt. Ihre Körper sind ganz Linie. Breite und geschwungene Pinselzüge treffen auf schmächtigere und geradlinigere. In der gewagten Überlappung des nur aus Konturen geformten Paars gelingt Beuys deren Transformation.

Sodann – Beuys spielt mit dem ihm zur Verfügung stehenden Formenschatz, weshalb man fragen kann, ob seine Arbeit nicht an jene von Picasso vorgebildeten, kubistisch abstrakten Frauenfiguren anknüpft. Gleichzeitig kann das Werk auch als Reminiszenz an die von Kirchner geschaffenen Bilder der Tänzerinnen Mary Wigman und Gret Palucca gedeutet werden. Dem Künstler geht es dabei allerdings nicht um die Ausstellung des Geschlechts, als vielmehr um die Einheit von Körper und Geist, deren vermeintliche Opposition sich im Tanz auflöst und zu einem höheren Bewusstsein führt. Im besten Sinne bewusstseinserweiternd kann man mit Beuys sagen: Der Mensch ist auf dem Weg zu sich selbst.

von Martin Lottermoser

Actrice, 1961

In der Arbeit Actrice aus dem Jahr 1961 bereitet Joseph Beuys einer Schauspielerin eine fast postergroße Bühne. Selbstbewusst tritt die Frau in Erscheinung. Mit einem effektvollen Schwung hat sie ihren Kopf entgegen ihrer Körperhaltung zur rechten Seite gewandt, so dass ihr langes Haar im Wind zu segeln scheint. Der breite, satte Pinselduktus in Beuys eigener Farbkreation, dem Braunkreuz, bannt die Figur statuarisch und ohne weitere Binnendifferenzierung aufs Papier. Kornährenartige, nun deutlich luftigere Pinselstriche dynamisieren ihre Frisur und lassen an die spätmittelalterliche Tradition von Hexendarstellungen bei Hans Baldung Grien und Hans Burgkmair denken.

abstrakte Figur in brauner Farbe
© VG Bild-Kunst 2023
Joseph Beuys, Actrice, 1961 Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Obgleich

Obgleich der Frauengestalt eine große Präsenz eignet – sie nimmt immerhin die gesamte Bildhöhe für sich ein – hat Beuys es nicht unternommen, sie zu individualisieren. Ihre Identität ist ungewiss. Bereits in den 1950er Jahren gehörte die anonymisierte Frau in der Rolle der Schauspielerin oder Hexe zu seinen Sujets. Weder die Kleidung noch der Umraum tragen zur Konkretisierung bei. Sollen wir die senkrechten Striche der rechten unteren Ecke mit den kurzen Querstreben als Wegweiser deuten? Der Künstler favorisiert vielmehr eine dezidierte Sinnoffenheit seiner Komposition, um in der Parallelisierung von Schauspiel und Kunst deren gemeinsamen Wesenszug zu zeigen. Die damit einhergehende Frage nach Schein und Sein löst sich bei Beuys nicht im Widerspruch auf, sondern verweist in seinem Denken auf die Dualität aller irdischen Existenz: So wie die Identität der Schauspielerin hinter ihrer energiereichen Erscheinung verborgen bleibt, so liegt hier auch die Gegenwart des Künstlers im Off des Werks.

von Martin Lottermoser

Geisterkliff, 1954

Uneinnehmbar ragen die Felsblöcke in Beuys’ Geisterkliff nach oben und sprechen so von der unvorstellbaren Kraft und Gewalt der Natur. Die Monumentalität der Felsformation wird sogar noch gesteigert, denn zu ihren Füßen liegt ein Gewässer, in dem sich schemenhaft ihre Gestalt spiegelt, ganz so, als wüchsen den Steinen Wurzeln. Das mit Öl- und Wasserfarbe gestaltete DIN A4 große Blatt evoziert regelrecht selbst den Eindruck, der Natur entnommen zu sein: Dem Weiß des Kliffs stehen Grau- und Brauntöne entgegen, die dem Papier eine merkwürdig verschmutze Oberfläche, ja eine witterungsartige Patina verleihen.

abstrakte Zeichnung mit weißen und grauen Flächen
© VG Bild-Kunst 2023
Joseph Beuys, Geisterkliff, 1954 Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Insgesamt

Insgesamt aber erinnert die helle Farbigkeit der in Untersicht wiedergegebenen Klippe an die imposante Erscheinung der berühmten Kreidefelsen auf Rügen. Bedenkt man zudem den Titel im Sinne eines Deutungsschlüssels, ergibt sich eine interessante Korrelation; dann nämlich ist das Geisterkliff nicht mehr bloß die Bezeichnung eines in der Zeichnung präsenten Naturdenkmals, im Gegenteil, in seine Bestandteile zerlegt, beschwört der Titel Geist und Materie. In der natürlichen Gegenüberstellung von Wasser und Fels, flüssig und fest, bis hin zur partiell kristallinen Form und transluziden Erscheinung des Kliffs findet sich im ‚Universum Beuys’ hier deren Entsprechung. Das Geisterkliff wird so zum Ausdruck gewaltiger Energien. Es schlägt eine zeitliche Brücke in die Vergangenheit, in welcher natürliche Kräfte der Landschaft ihre Form verliehen. Kunst und Natur gehen im Kristallinen eine Liaison ein. Dies vor Augen zu rufen, heißt für Beuys, Materie als Geist und Geist als Materie wahrzunehmen. Er transzendiert, was einst gewesen.

von Martin Lottermoser

Odyßeus, 1957

Chaos ist ausgebrochen und die Farben kämpfen auf zwei quadratischen Blättern um die Vorherrschaft. Einzig vom titelgebenden Odyßeus (Odysseus) scheint jegliche Spur zu fehlen. Bekanntlich stellt der antike Held den Archetypen eines zur List fähigen Menschen dar. Könnte er sich also im Getümmel der Farben versteckt halten und nur auf den geeigneten Moment warten, hervorzutreten?

bunte Farbspritzer auf Papier
© VG Bild-Kunst 2023
Joseph Beuys, Odyßeus, 1957 Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Beuys’ Komposition

Beuys’ Komposition beruht auf keinem bewusst strukturierenden Ordnungsprinzip und doch fallen ein paar wie zufällig gewählte ästhetische Maßnahmen zum Bildaufbau auf. Nimmt man den Farbhaufen als ein Ganzes über beide Seiten wahr und verfolgt seine Abgrenzung zum partiell verklecksten Rest des weiß gelassenen Papiers, entsteht eine Dreieckskomposition, deren Scheitelpunkt ein rotweinroter Wasserfarbenfleck in der Mitte des rechten Blattes markiert. Darüber hinaus macht sich der Künstler den Effekt eines Positiv-Negativ-Verfahrens zu Nutzen: während die blassere Farbigkeit des linken Blattes so aussieht, als wäre sie durch Abklatsch vom noch feuchten rechten entstanden, finden sich zwei ausgeschnittene Papierschnipsel umgedreht und blau gefärbt auf der anderen Seite wieder.

Beuys’ Arbeit folgt einer Poetik des Rätselhaften. Wo soll man Odysseus suchen, wo würden wir erwarten, ihn anzutreffen? Sollen wir nach einer bestimmten Form oder aber Farbe Ausschau halten? Bezeichnet etwa die abstrakte blassrote Form auf der linken Hälfte unterhalb der ausgeschnittenen Stellen – den sprichwörtlichen Leerstellen – das trojanische Pferd (samt Reiter, aber ohne Kopf)? Oder weisen die Papierausschnitte auf ein Augenpaar, das wie der – allerdings einäugige – Zyklop vergeblich bemüht ist, seinen Feind im Blick zu behalten? Besteht die Pointe von Beuys’ Werk nicht vielmehr darin, dass er auf der Suche nach Odysseus uns die unwissende Rolle der Trojaner oder des Zyklopen zukommen lässt? Beide wusste der gerissene Odysseus in die Irre zu führen; ersteren präsentierte er ein hölzernes Pferd als vermeintliche Opfergabe, der Gefangenschaft bei letzterem entkam er als „Niemand“, versteckt unter einem Schaf. Dass auch Künstler solch raffinierte Fallensteller sein können, die sich mit dem antiken Helden identifizieren, beweist Beuys mit einem geistreichen Wortspiel im Titel seines Kunstwerks. Liest man das „ß“ in Odyßeus als „B“, tritt er zum Vorschein, der „OdyBeus“.

von Martin Lottermoser

ohne Titel, 1950

Poesie bedarf keiner Titel. Ebenso wenig verlangt sie nach Opulenz. Die kaum postkartengroße Zeichnung Joseph Beuys’ ohne Titel von 1950 entstammt einem kleinen Notizblock, der seine Spuren am fransigen linken Rand hinterlassen hat. Auf den ersten Blick vermittelt die Skizze den Eindruck großer Spontaneität und Lebendigkeit. Die Reduktion der zur Verfügung stehenden Formsprache ist ihr Leitprinzip.

abstrakte Striche auf Papier
© VG Bild-Kunst 2023
Joseph Beuys, ohne Titel, 1950 Dauerleihgabe der Sammlung Aeneas Bastian an das Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Mehrere violette Blumen

Mehrere violette Blumen ragen von unten in das Bildfeld und kontrastieren mit der gelblichen Farbe des Papiers. Dem begegnen rasch hingeworfene krakelige von links nach rechts aufsteigende Zickzacklinien in Blau-Grün auf der oberen Blatthälfte. Damit betont die Komposition zunächst ihre Flächigkeit und lässt scheinbar jeden Tiefenraum vermissen.

Zwei der insgesamt acht Blumen blühen. Während sich von links eine schlanke Blüte mit zwei wie zum Himmel erhobenen Blütenarmen ins Bild drängt, steht unmittelbar daneben eine weitere irisartige in voller Pracht. Fast könnte man meinen, es mit einem Herbarium zu tun zu haben, das auf einer Seite mehrere Phasen der Blütenentwicklung abbildet. Für Beuys sind Pflanzen denn auch von zentraler Wichtigkeit. Immer wieder macht er in seinen Arbeiten von getrockneten Blumen und Blättern Gebrauch. Der kompositorische Kniff, die Blumen vom unteren Rand abzuschneiden, lässt sie hier nicht nur Teil unserer Welt werden, sondern rückt sie tatsächlich in eine solche Nähe, dass wir sie anfassen und an ihnen riechen könnten, auch wenn sie nur gemalt sind. Fokussiert man sie, treten die Linien am oberen Blattrand in den Hintergrund und geben sich als Profil einer Bergkette zu erkennen. In diesem Moment entsteht förmlich ein ganzes Landschaftsbild.

An Hokusais berühmten Farbholzschnitt Sturmwind und Wanderer erinnernd erfährt das Werk eine weitere Dimension. In stark abstrahierter Form spielt die Darstellung mit dessen Motiven. Bei Beuys unterliegen sie einer Transformation ins Florale, gleichwohl die Organisation der Komposition vergleichbar bleibt. Zunächst wird die markante Silhouette des japanischen Fuji von links nach rechts seitenverkehrt, den dritten Wanderer mit erhobenen Armen imitiert der Blumenstängel mit seinen emporgestreckten Blütenblättern. Vor allem ist es aber die Schrägstellung der beiden Pflanzen links, die das Bild einerseits dynamisiert, andererseits aber eine Analogie der beiden Kunstwerke erlaubt. In der Lakonie der Linien und Farben gelingt Beuys die Rückbesinnung auf den Kern, das Wesen von Natur, Mensch und Landschaft. Im Einfachen ist die Welt ganz groß.

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