Evelyn Richter
(* 31. Januar 1930 in Bautzen; † 10. Oktober 2021 in Dresden)
Ein Nachruf
Ein Nachruf
In der Jubiläumsausstellung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, die im letzten Jahr zum 300. Geburtstag des Museums die Höhepunkte der eigenen Sammlungsgeschichte präsentierte, war natürlich auch Evelyn Richter mit einer Fotografie vertreten. Die Aufnahme eines Paares vorm Brandenburger Tor am Tag nach der offiziellen Öffnung des dortigen Grenzübergangs im Dezember 1989 verdeutlicht Richters ganze fotografische Meisterschaft. Die Fotografin vermied es, die Feierlichkeiten der Grenzöffnung mit dem offiziellen Auftritt der Politiker zu zeigen – dafür war ihr die Gesten der Macht zu suspekt – und suchte sich lieber am Folgetag ein stilleres Motiv: Ein inniges Paar im kalten Nieselregen, umgeben von Menschen, die stehengeblieben sind oder in Bewegung, im Hintergrund das Brandenburger Tor. Weder der Mann noch die Frau blicken in die Richtung des Schauplatzes vom Vortag, die Gefühlslage der beiden bleibt uneindeutig, spürbar ist die Ambivalenz zwischen der Dankbarkeit für die politische Wende und der Ungewissheit über die Zukunft. Das große Interesse am Menschen und seinem Lebensumfeld blieb für das fotografische Vorgehen Evelyn Richters, die zu den großen Fotografinnen in Deutschland zählt und auch internationale Anerkennung gefunden hat, kennzeichnend und zieht sich durch ihr gesamtes Werk.
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Geboren wurde Evelyn Richter
Geboren wurde Evelyn Richter 1930 in Bautzen. Nach der Ausbildung zur Fotografin bei Pan Walther in Dresden, die von Walthers Lehrer Franz Fiedler freundschaftlich unterstützt wurde, arbeitete Richter Anfang der 1950er-Jahren eine Zeitlang als technische Fotografin an der TU Dresden, bevor sie 1953 ihr Fotografie-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig aufnahm, das schon 1955 mit ihrer zwangsweisen Exmatrikulation endete. Für ihre Hinwendung zur sozialdokumentarischen Fotografie hatte die Hochschule keine große Rolle gespielt. Entscheidender waren sowohl die legendäre von Edward Steichen organisierte Ausstellung „The Family of Man“, die Richter 1955 in West-Berlin gesehen hatte, als auch ihr erster Besuch in Moskau 1957. Fasziniert von der russischen Lebenswirklichkeit, hatte sie sich dort mit einer Kleinbildkamera erstmals direkt den Menschen im Alltag zugewandt: Ein Prinzip, das für ihre weitere fotografische Praxis in der DDR bestimmend bleiben sollte und ihr ermöglichte, gleichnishaft gesellschaftliche Widersprüche zu thematisieren und den systemkonformen offiziellen Bildern ein wahrhaftiges, empathisches Bild des ostdeutschen Alltags und seiner Menschen entgegenzusetzen. Dies galt auch für die Zeit nach 1989, als die Fotografin Themen ihres früheren Schaffens aufgriff und in anderen Ländern und Kontexten weiterführte. Einen überraschenden Einblick in die qualitätsvolle Bildproduktion ihrer späten Jahre ermöglichte 2018 die Ausstellung „Von der Latenz der Bilder“ im Ausstellungsraum bautzner69, in der eine Auswahl von Fotografien gezeigt wurde, die Evelyn Richter aus Altersgründen selber nicht mehr entwickeln und abziehen konnte.
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Vor knapp zwei Jahren
Vor knapp zwei Jahren, zum 90. Geburtstag der Fotografin, richteten das Albertinum, der Kunstfonds und das Kupferstich-Kabinett in der Reihe Focus Albertinum als Hommage an das Lebenswerk von Evelyn Richter eine kleine feine Retrospektive aus den eigenen Beständen aus. Hier waren die mittlerweile kanonischen Fotografien wie „An der Linotype“ und „In der Kunstausstellung“ zu erleben, ebenso das ikonische Bildnis von David Oistrach aus dem Jahr 1970, das Richter dem Kupferstich-Kabinett erst zwei Jahre vor der Ausstellung geschenkt hatte. In diesem Bildnis zeigt sich beispielhaft, wie die Musikliebhaberin Evelyn Richter es verstand, Oistrachs versunkenes Spiel zu einem Sinnbild ihrer humanistischen Haltung zu machen, das zwischen Ost und West keine Grenzen kannte. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nehmen Abschied von der großen Fotografin Evelyn Richter, die am 10. Oktober 2021 im Alter von 91 Jahren in Dresden gestorben ist.
von Dr. Björn Egging, Konservator am Kupferstich-Kabinett